Kurzgeschichten aus der Perspektive von verstorbenen Menschen.

Wenn ein Mensch stirbt, sehen wir nur die Seite der Hinterbliebenen. Die Trauer, den Verlust und der damit verbundene Schmerz. Es scheint unmöglich, dass auch die betroffenen Toten darunter leiden könnten. Sie sind getrennt von ihren Liebsten, weil sie nicht mehr so wahrgenommen werden können, wie es gewöhnlich war. Die Unendlichkeit eröffnet sich ihnen und sie blicken in eine komplett neue Welt.
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihnen zuzuhören und ihre Geschichten niederzuschreiben, damit sie jeder lesen kann. Denn das ist das, was sie manchmal möchten – ihr Schicksal teilen…
Ihre Worte schreibe ich in Kurzgeschichten. Da ich inhaltlich nichts hinzufüge, können sie auch unterschiedlich lang sein. Kaum einer möchte Alles von sich preisgeben. So ist es auch bei ihnen, sie bestimmen es selbst.

Dieses Buch beinhaltet 12 Erzählungen. Stephanie musste miterleben, wie ihr geliebter Bruder am Leben zerbrach. Jaques verlor mit dem Tod seiner Frau auch sein Erinnerungsvermögen. Kerstin wurde in jungen Jahren zur Vollwaise und das veränderte ihr Leben, aber nicht ihren Tod. Tommy war auf der ewigen Suche nach geruhsamer Stille. Vincent zog mit seinen Eltern in Kindstagen von Australien nach Bayern und wurde mit vielen Problemen konfrontiert. Das Leben von Alàn endete in Gefangenschaft, deshalb strebte er nach absoluter Freiheit. Toni unterrichtete viele Jahre an einer renommierten Schule. Dann kam es zu einer üblen Nachrede, die seinen Lebenstraum zerbrechen ließ. Marys Traum war ein Gemüseladen. Doch bevor er Wirklichkeit werden konnte, musste einige Zeit vergehen.
Der Wind wurde nach dem Tod einer alten Schulfreundin aufgesucht und darüber in Kenntnis gesetzt, dass er mit der kürzlich Verstorbenen eine Tochter hat. Diese große Überraschung blieb nicht seine letzte…
Theresa war eine passionierte Reiterin. Sie liebte ihr Pferd Mimmie über alles und ahnte insgeheim, dass ihr Tod, ihr größter Schicksalsschlag werden würde. Wie sehr er es aber wirklich war, daran hätte sie im Leben nicht gedacht. Thomas liebte es, bis an die Grenzen zu gehen und lebte sein Leben in vollen Zügen. Rauschmittel halfen seinem besten Freund Steffen und ihm dabei. Als er aus seinem letzten Trip erwachte, war nichts mehr wie vorher. Ein neuer Lebensabschnitt musste beginnen. Jeanette erfüllte sich ihren Traum Zentralamerika zu bereisen. In einer gut situierten Familie arbeite sie als Kindermädchen und wollte dem gängigen Klischee einer Ehemannverführerin trotzen. Sie musste feststellen, dass das Leben anders spielt, als sie es sich vornahm – ANDERS, bis über den Tod hinaus.

 

 

Leseprobe

 

Stephanie Küster

 

 

Unsere Eltern waren Alkoholiker, dadurch mussten mein Bruder Martin und ich schon früh für uns allein die Verantwortung übernehmen. Wir lernten das wahre Leben kennen und zogen schnell aus, nachdem wir volljährig waren.

Wie das Schicksal so spielt, bestraft es nicht jeden gleich hart. Martin traf es sehr schwer, denn das Leben wurde für ihn zu einer Strafe. Während es mich stärker machte, versank er in einem Dschungel, den er später mitsäte und sprach oft von Selbstmord. Ich wollte davon nichts hören, nahm aber seine Drohungen ernst und bat ihn, bei mir zu wohnen. Ich wollte ein Auge auf ihn haben und ihn beschützen. Ich wollte ihn nicht auch noch verlieren, so wie meine Eltern, zu denen der Kontakt starb. Leider konnte ich ihn nicht von früh bis abends bewachen und er signalisierte mir Stück für Stück, dass unser Zusammenleben ihn glücklich machte. Das glaubte ich ihm nur teilweise. Mit Gesprächstherapien versuchte er die Vergangenheit zu verarbeiten. Unser Vater nahm ihm immer hart in die Mangel, wenn er soff und zerstörte sehr viel in Martin. Ich musste immer dabei zusehen...

Für mich waren Therapien nichts, ich wollte nur vergessen und tat das auch perfekt. Nur selten jagten mich Alpträume und erinnerten mich kurz an jene gleichen aus der Realität. Mein Leben war schön, ich fand einen Job als Bäckereiverkäuferin und wurde mit meiner besten Freundin glücklich. Martin durfte von Jessica nichts erfahren, denn er hätte – wie viele andere wahrscheinlich auch – unsere Liebe verunglimpft. Das machte unsere Treffen dann sehr schwierig, aber sie hatte viel Verständnis.

Es war ein Montag und ich freute mich darauf, an diesem freien Tag ausschlafen zu können. Martin schlief mit in meinem Schlafzimmer, weil in der Wohnung nur zwei Zimmer vorhanden waren. Sein Klappbett war an der Wand und wenn ich meine Augen öffnete, war er mein erster Blick. Es war noch sehr früh und ich wurde von Martins Husten geweckt. Es schien, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich hinsehe. Er stand auf seinem Bett, lächelte und sprang seitwärts zu Boden. Ich begann zu schreien. Was machte er da? Er blutete stark im Gesicht. Unter seinem Kopf lag ein gläserner, scharfkantiger, kleiner Kasten, der zur Hälfte zersprungen war. Er wollte mit einem gezielten Sprung darauf sein Genick brechen, verfehlte es aber.

Ich rief den Krankenwagen und saß fassungslos in seine Blutlache. Taschentücher zogen seine blutende Gesichtshälfte wie ein Schwamm auf. Ich sah so etwas noch nie zuvor und das hatte bei meiner Kindheit schon etwas zu bedeuten.

Ich fuhr im Krankenwagen mit und bei einer Notoperation versuchten die Ärzte sein linkes Augenlicht zu retten – sie schafften es aber nicht.

Da saß er dann die nächsten Wochen in meiner Wohnung ... schweigsam und in sich gekehrt. Ich wollte ihn nicht mit Vorwürfen belasten, obwohl mein Kopf voll davon war. Was dachte er sich dabei? Warum bei mir? Warum tat er mir das an? Wieso sollte ich dabei zusehen? Ich blieb stark, auch wenn alles in mir vibrierte. Nach außen spielte ich die fürsorgliche, sich nichts anzumerkende Schwester. Innerlich brodelte ich von Tag zu Tag mehr und war glücklich, wenn ich auf Arbeit durfte. Die erste Zeit passte dann Jessica auf ihn auf, wenn es ihr zeitlich möglich war. Martin wurde das schnell zu doof. „Er sei ja kein Baby mehr“, beschwerte er sich bei mir. Also ließen wir ihn diesen Wunsch gewähren und ich wartete auf den Tag, an dem man mich anruft, um mir mitzuteilen, dass Martin tot sei ... dass sein Suizidversuch erfolgreich war. Ich wusste genau, dass es so kommen wird, und dass er es nicht noch einmal vor mir macht. Er wird sich etwas suchen, das nicht riskant ist ... etwas, bei dem es keine Überlebenschancen gibt.

Er verweigerte seine Therapie, auch wenn ich ihn darum bat. Dass er auf dem linken Auge erblindet war, machte ihn sehr wütend. Er war zornig auf die ganze Welt und in mir brodelte der Hass auf meine Eltern. Nur sie waren Schuld, dass er so war!

Es vergingen nur wenige Wochen, als sich meine Vorhersehung erfüllte. Ich war auf Arbeit, als mein Handy klingelte. Ich sollte sofort ins Krankenhaus kommen und eigentlich hätte ich auch gleich zum Bestatter gehen können. Ich sollte die Kleidung und das Handy von Martin identifizieren. Viel mehr war nicht übrig. Er sprang von einer Bahnhofsbrücke, direkt vor einen fahrenden Zug. Dieser Suizid war todsicher und ich war wenig überrascht oder traurig. Meine Reaktion war merkwürdig, aber dadurch, dass ich schon total damit rechnete, schockierte es mich nicht. Mir taten nur die leid, die es sehen mussten und säuberten. Es wurde ein teurer Spaß, den ich von meinem geringen Gehalt nicht bezahlen konnte. Also wurden unsere Eltern belangt und damit startete ein wahrer Alptraum.

Sie erschienen tatsächlich zu seiner Beerdigung! Ich konnte es nicht fassen, mit welchem Recht sie das taten! Sie waren an Martins Leben und Tod Schuld und hatten nichts Besseres zu tun, als mich sofort mit Vorwürfen zu überhäufen. Stinkend nach billigem Fusel, wurde Martins letztes Geleit zur Qual. Am liebsten wäre ich gegangen, aber dafür liebte ich Martin zu sehr. Jessica war mir eine große Hilfe, obwohl meine sogenannten Eltern auch für sie nur Spott und Häme übrig hatten. Dieser Tag war der absolute Horror und ich überlegte, wie es Martin jetzt gehen würde. Ich glaubte ganz fest an ein Leben nach dem Tod. Irgendwann musste es doch etwas Besseres geben ... das menschliche Leben konnte doch nicht alles sein?

Auch Martin glaubte fest daran und wollte deswegen auch so schnell sein Leben beenden. Ich fand Schriftstücke von ihm, in denen er darüber schrieb. Wie schön er es sich vorstellte ... ich hoffte für ihn, dass ihm nur einmal ein Wunsch – dieser Wunsch – erfüllt werden würde. Jessica war sehr gläubig und ihre Familie meinte, dass Martin nun in der Hölle ist ... dass er kein Recht hatte, sein Leben selbst zu beenden.

Diese Einstellung machte es mir schwer, weiterhin mit Jessica zusammen zu sein. Es ging einfach nicht mehr. Warum sollte ich glauben, dass mein Bruder weiter bestraft werden würde? Wieso? Damit wollte ich nichts zutun haben!

Ich ging weiter fleißig arbeiten und fiel zum Feierabend in ein tiefes Loch. Meine Stärke, die ich mir jahrelang aufbaute, war verschwunden. Sie wurde vom Zorn, den ich spürte, gefressen. Ich kam mir immer mehr wie Martin vor. So musste er sich gefühlt haben ... es war entsetzlich. So wollte ich nicht mehr weiterleben. Ich suchte Auswege – Gesprächstherapien, von denen ich nichts hielt, weil ich meine Vergangenheit, Vergangenheit sein lassen wollte. Ich wollte nichts hoch holen, das nichts wert war. Ich lief oft über die Bahnhofsbrücke, in Gedenken an Martin. Von vielen Menschen bekam ich böse Blicke ... sie verurteilten seine Tat. Ich dachte sehr oft darüber nach – wie verzweifelt er schlussendlich war, diesen Weg zu wählen. Tag für Tag konnte ich ihn besser nachvollziehen. Selbstmord ... wäre das auch meine Lösung?

 

Ich suchte nach einer Variante, bei der kein anderer Mensch in irgendeiner Weise zu Schaden kommen würde. Sowohl seelisch, als auch körperlich ... es sollte nur mein Ende sein. Egal, wie ich es drehte, ich fand keinen Weg. Immer würden mich Ärzte oder andere Personen finden und ich hätte sie damit verstört.

Es sollte nichts, wirklich gar nichts von mir übrig bleiben. Um das zu erreichen fuhr ich in den Urlaub. Ich gönnte mir noch nie einen und sparte viel Geld. Es kamen für mich zwei Varianten infrage. Mit einem gemieteten Boot bis zur Mitte des Meeres fahren, meinen Körper beschweren und ertrinken oder die leichtere Möglichkeit: in einen Vulkan springen. Auf die Idee brachte mich ein Film, der altertümliche Opfergaben zeigte. Dabei würde nichts von mir übrigbleiben und ich würde auch keinen anderen Menschen mit einbeziehen. Aktive Vulkane gab es genug ... einfach in den Krater springen und fertig. Genauso machte ich es. Ich erkundschaftete die Umgebung von La Réunion und genoss die letzten schönen Tage meines Lebens. Es war der absolute Wahnsinn, denn ich konnte jenen Tod vollführen, den ich mir wünschte. Es war niemand bei mir. Nur ich allein. Ich zögerte nicht und sprang...

Was dann geschah fiel mir schwer zu glauben. Ich fühlte meinen Sprung und beobachtete mich dabei aus der Vogelperspektive. Ich sah die Lava, die in dem Krater auf mich wartete, näher kommen. Sie verschluckte mich ... meinen Körper ... ich beobachtete dies aus zweierlei Versionen gleichzeitig. Dann verschwand die eine und ich blieb in der Vogelperspektive – wie ein Zuschauer. Ich sah mich um und entdeckte viele Gestalten, die in der Luft baumelten. Ich ärgerte mich darüber, denn ich wollte doch niemand mit einbeziehen. Niemand sollte es sehen und davon in Mitleidenschaft gezogen werden. Im Himmel wimmelte es nur so von denen. Allerdings interessierten sie sich nicht dafür. Sie starrten fasziniert auf das Naturschauspiel.

„Du hast es wirklich getan?“

Ich zuckte von den Worten, die hinter mir gesprochen wurden, zusammen. „Martin?“ Es war seine Stimme und sein Gesicht, das mich erstaunt begutachtete.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du dich selbst umbringst. Du warst doch die Starke von uns beiden.“

„Martin?“ Ich konnte das nicht fassen, auch wenn wir beide daran glaubten. So hatte ich es mir nicht vorgestellt.

„Wie hast du es dir denn vorgestellt?“, fragte er mich lächelnd und umarmte mich. Ich war so froh bei ihm zu sein. Ihn nicht verloren zu haben und ihn auf diese Weise zu spüren. Er war mit sich selbst zufrieden – diesen Zustand erreichte er nie auf Erden. Ich hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen und ließ mich von seiner Gemütlichkeit und Gelassenheit anstecken. Ich sah alles in einem anderen Licht und wäre dort auch noch ewig mit ihm geblieben, aber er musste weiter und nahm mich mit sich.

Mit vielen anderen, die sich noch auf der Erde tummeln, durchbrachen wir die Grenzen zum Sein und warten auf die Unendlichkeit. Wir ziehen durch die Straßen und erkunden jeden Stein, jedes Glas, jeden Winkel, den dieser schöne Planet zu bieten hat. Wir beobachten das Leben und auch den Tod bei allen Wesen. Faszinierende, diverse Tierarten, die wir so noch nie gesehen haben. Menschen, die qualvoll verenden und Kinder, die unter schlimmen Voraussetzungen geboren werden. Wir schauen uns alle Phasen an und stellen oft fest, wie gut wir es dann doch hatten. Furchtbare Dinge, die uns erspart geblieben sind. So hätten wir zu Lebzeiten nicht gedacht und das ist das schöne Jetzt, das nie vergeht und für immer währt. Egal wo – egal wann – egal wie.


Jaques

 

Mein erfülltes Leben erfreute mich jeden Tag. Ich saß am Fenster, schaute hinaus und wartete, bis meine Frau Christin unseren ‚Nachmittags-Tee’ brachte. Zusammen tranken wir ihn täglich. Mit einem bezaubernden Lächeln reichte sie ihn mir und ich füllte ihn mit Milch und Zucker. Unser Leben war vollkommen und unsere zwei Töchter hatten schon ihre eigenen kleinen Familien gegründet. Jeden Sonntag kamen sie uns besuchen. Diese Zeit nutzten wir intensiv mit unseren drei Enkeln und waren traurig, wenn sie gingen. Doch der nächste Sonntag kam bestimmt und erfreute unser Herz.

Dass es einmal nicht mehr so werden könnte ... dass ich meinen Tee allein trinken müsste ... ich wollte nie darüber nachdenken. Christin war gesund und lebhaft ... ich dachte, wenn, dann würde ich zuerst sterben. Dass es aber sie zuerst trifft? Diese Wette hätte ich verloren.

Nach unserem 58.Hochzeitstag beobachteten wir immer häufiger, wie Menschen in unserem Alter starben. Es waren uralte Freunde, mit denen wir die Nachbarschaft teilten. Einer starb nach den anderen...

An einem Samstag, als die Morgensonne durch das geöffnete Fenster schien und schöner Vogelgesang mich weckte, weckte er nur mich. Der Klang verhallte in meinen Ohren, als ich zu Christin sah. Ich erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn sie die friedlichste Person war, die je auf der Erde wandelte, sah sie an diesem Samstagmorgen unheimlich ruhig aus. Ihr Herz hatte seinen Dienst beendet – einfach so – ohne uns zu fragen.

 

 

 

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