Kurzgeschichten aus der Perspektive von Verstorbenen

Paul war ein gewöhnlicher, hart arbeitender Mann aus dem Bundesstaat Wisconsin. Mit seiner Frau Audrey und seinen vier Kindern erreichte er alles, was er sich für sein Leben wünschte. Es war an der Zeit, sich seiner anderen Seite zu widmen...

Dieses Buch beinhaltet nicht nur die Geschichte von Paul, sondern auch die seiner Opfer.

 

 

Leseprobe

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  Paul

 

 

Mein Name war zu Lebzeiten Paul. Ich wuchs mit meinem Bruder Phil in einer kleinen Stadt in Ohio auf. Unsere Eltern schenkten uns viel Liebe und ich wusste, dass ich es ebenso machen würde, wenn ich erwachsen war. Phil und ich verbrachten viel Zeit miteinander, besonders wenn unsere Eltern arbeiten mussten. Wir spielten viel draußen und redeten über alles. Zumindest war das zu Beginn so, denn ich bemerkte schnell, dass ich mit einigen Gedankengängen, die ich damals hatte, bei Phil auf Unwohlsein traf. Wir spielten mit einer Spinne, rissen ihr die Beine ab ... Was Kinder halt so tun. Phil wollte weiter und ich setzte mich zur Spinne und sah ihr bei ihrem verzweifelten Todeskampf zu. Das faszinierte mich und ich redete über Gedanken, die mich jede Nacht in den Träumen beschäftigten. Wie es wohl sein würde bei größeren Tieren ... Wie es wäre, eine Maus zu jagen und eigenhändig zu töten. Phil sah mich an - er schaute angewidert und petzte abends bei Mama. Ihr offener Mund und das darauffolgende Geschrei zeigten mir, dass ich zu weit gegangen war und es nie wieder machen sollte. Nur mein Vater stand auf meiner Seite. Er hielt es für normale Gedanken, um Grenzen auszutesten. Es sei nichts Besorgniserregendes. Er war genauso als Kind, sagte er mir. Völlig normal.

Gegenüber Phil verhielt ich mich von nun an anders. Ich wollte nicht, dass dies noch mal vorkam, denn auch meine Mutter sah mich noch Tage später mit einer Spur Ekel an. Irgendwas war anders an ihr. Sie ging anders mit mir um, so als wäre ich nicht mehr ihr kleiner Sohn. Dabei hatte ich doch nur etwas gesagt, ich hatte doch gar nichts getan!

Nach zwei Wochen entschuldigte ich mich bei meiner Mutter. Ich ertrug ihre Art nicht mehr. Sie winkte ab, als ob nichts sei und küsste mir die Stirn beim Gute Nacht sagen.

„Mama, ich habe solche Gedanken nicht mehr“, wollte ich meiner Ehrlichkeit kundtun.

„Bitte werde ein guter Junge“, sagte sie mit Tränen in den Augen. Ich nickte und sie schaltete das Licht aus.

Mein Zimmer war kleiner als das von Phil und lag genau gegenüber. Leise hörte ich seine Musik, die er noch abspielen durfte, weil er zwei Jahre älter war. Mit dieser sanften Berieselung schlief ich immer gut ein und ließ meine Träume, Träume sein.

Ich war zehn als dies alles geschah. Wie sehr wünsche ich mir diese Zeit herbei. Wieder im Bett liegen und Mama und Papa kümmern sich um alles. Ich könnte mein Leben zurückschrauben und einiges anders machen. Ich würde noch einige Jahre zurück gehen. Mit sechs Jahren nicht anzufangen kleine Insekten zu töten. Denn so begann alles in mir, sie legten den Schalter um.

 

Ich denke lieber an meine Zeit als sechszehnjähriger. Auf dem Schulball lernte ich ein bezauberndes Mädchen namens Audrey kennen. Ich war sofort Feuer und Flamme und wollte sie jeden Tag wiedersehen. An den Wochenenden wurde es uns gestattet, damit wir die Schule nicht vernachlässigten. Sehr oft fuhr ihr Vater mit uns ins Autokino oder meine Eltern luden sie zum Essen ein. Sie freuten sich über unser Glück und meine Mutter lächelte in jener Herzlichkeit, wie ich es von ihr gewöhnt war. Meine verstörten Gedanken schienen vergessen und auch ich dachte schon lange nicht mehr darüber nach. Audrey war viel spannender. Sie wurde zu meinem Lebenssinn und als wir beide achtzehn waren, hielt ich um ihre Hand an. Ich wollte sie nicht mehr gehen lassen, diese Frau gehörte zu mir. Breit lächelnd nahm sie meinen Antrag an. Ihre Eltern stimmten unserer Verlobung zu, weil sie wussten, dass sie bei mir in guten Händen war.

Ich würde es später als Bankier weit bringen. Sie hätte nie finanzielle Nöte oder andere Sorgen - genau das versprach ich ihr zwei Monate später bei unserer Hochzeit im kleinen Kreis. Unser beider Familien und zwei ihrer besten Freundinnen waren anwesend. Ich hatte keine guten Freunde, sie waren Kumpel mehr nicht. Sie verspotteten mich, dass ich mich so früh binde, daher wollte ich sie weder bei meiner Vermählung noch im weiteren Leben sehen. Ich brauchte sie nicht, ich hatte Audrey und genug mit dem positiven Abschluss meiner Ausbildung zu tun.

Dank meines Vaters, der ebenfalls bei einer Bank arbeitete, hatte ich leichtes Spiel die Karriereleiter schnell aufzusteigen. Ich zog mit Audrey in ein kleines Haus am Stadtrand und sie gebar unsere erste Tochter.

Kinder geschenkt zu bekommen war einzigartig. Jede weitere Geburt glich einem Wunder. Audrey war fabelhaft. Nach unserer Tochter folgten noch zwei weitere und unser kleiner Junge krönte unser Glück. Sie sollten ein gutes Leben haben und das hatten sie. Fernab von Sorgen, Problemen, alles Negative hielten wir von ihnen fern. Sie sollten die freie Kindheit bekommen, die auch wir genossen hatten. Als sie zehn, acht, sieben und vier Jahre alt waren, geschah etwas, das mein Leben veränderte.

Ich war noch spät auf Arbeit, weil ich unzählige Verträge kontrollieren und unterschreiben musste. Gegen zwei Uhr war ich fertig und lief die zwei Kilometer zu Fuß nach Hause. Das tat ich oft, es war für mich eine Stress abbauende Variante. Bewegung an frischer Luft tat immer gut, auch wenn ich die Uhrzeit nicht optimal fand.

Die Straßenlaternen leuchteten mir den Weg, als ich plötzlich etwas im Gebüsch hörte. Es klang wie ein Tier und ich trat einige Schritte heran um besser sehen zu können. Die Blätter raschelten und ich fühlte mich plötzlich wie in einem Horrorfilm. Was würde dort sein? Ich entschied mich, mein Schicksal nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und lief im Schnellschritt weiter. An einer Waldlichtung hielt ich inne, weil mich etwas zu verfolgen schien. Ich wollte nicht das Opfer sein, das wehrlos wegrennt, also drehte ich den Spieß um und rannte schreiend auf etwas zu, das ich nicht sah. Mein Körper explodierte förmlich vor Adrenalin.

Ich brachte etwas ans Licht, das lieber im Verborgenen hätte bleiben sollen. Mein Schrei störte zwei Teenager, die dachten, sie hätten ein sicheres Liebesversteck. Sie sprangen auseinander und rannten in unterschiedlichen Richtungen. Ich folgte der Frau, die in den Wald hinein lief.

„Bleib stehen“, schrie ich.

„Nein“, kreischte sie und wurde schneller.

Meine Sicht war schlecht, doch meine Füße wollten weiter. Sie wollten ihr hinterher, ich wollte ihr hinterher. Es war, als hätte ich etwas in mir aufgewacht.

„Bleib bitte stehen, ich tu dir nichts!“ Meine Gedanken lachten über meine Worte und überlegten sich schlimme Sachen, die ich tun könnte, wenn ich sie fange.

Die Frau fiel über eine Wurzel. Ich hörte sie bitterlich weinen und wurde langsamer.

„Bitte tu mir nichts“, flehte sie. „Ich bin doch noch so jung.“

Ihre Worte öffneten mir die Augen. Ich musste an meine älteste Tochter denken, drehte um und rannte zu meinem Haus. Zum Glück schliefen alle, vor allem Audrey hätte ich zu dem Zeitpunkt nicht sehen wollen.

Verschwitzt sah ich in den Badezimmerspiegel. Was war da gerade geschehen? Die Tatsache, dass mir die Verfolgungsjagd begann Spaß zu machen, wollte ich weit wegschieben. Ich wollte nicht mehr daran denken, doch die Umgebung erinnerte mich jeden neuen Tag daran. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Audrey zu überzeugen, das ich wegziehen möchte. Den Bundesstaat Wisconsin fand ich immer schön und ich verlegte meine Arbeit in eine andere Filiale.

Audrey und die Kinder waren zu Beginn nicht begeistert, deswegen musste ich mit etwas auftrumpfen, was unser gesamtes altes Leben in den Schatten stellte.

Ich kaufte ein riesiges Anwesen mit großem Pool in einem kleinen Vorort. Es war perfekt für ein neues Leben und überzeugte meine Familie ohne weitere Worte schnell vom Umzug.

Um uns einen guten Start zu geben, starteten wir mit einem großen Grillfest für die gesamte Nachbarschaft. Wir wollten uns eingliedern und die Kinder und Audrey sollten schnell neue Freunde finden. Für mich war das nichts. Ich wollte keine Beziehungen zu fremden Menschen pflegen oder leichter gesagt zu anderen Menschen, die nicht meine Familie waren. Ich sah darin keinen Sinn. Ein Bier konnte ich auch allein auf meiner Veranda trinken, ohne dass ich dann mit jemanden reden müsste.

Zu unserem großen Einstand kamen auch unsere Eltern und mein Bruder mit seiner neuen Freundin. Er war ein Macho, mal hier eine, mal da eine. Ich nahm seine Freundinnen nicht mehr ernst, auch wenn es mir um sie leid tat. Nicht lange und er würde sie gegen eine andere eintauschen. Warum also sollte ich mir die Mühe machen und sie kennenlernen? Audrey sah das anders. Für sie war jede eine potentielle Schwägerin und als Einzelkind freute sie sich über jeden möglichen Familienzuwachs. Ich spielte mit, weil sie sich so freute.

Einfach alle waren glücklich und auch ich, denn ich hatte alles erreicht. Eine liebende Frau, tolle Kinder, stolze Eltern, eine erfüllende Arbeit und ein Traumhaus. Was wollte ich mehr? Was hielt das Leben noch für mich bereit?

Der nette Nachbar von nebenan? Mit diesem Eindruck sahen mich die fremden Menschen freundlich an und ich ging in die Küche um weitere Steaks zu holen. Ich schnitt sie in daumendicke Stücke und der Fleischsaft floss am Messer entlang. Das war mir in dem Ausmaß noch nie aufgefallen. Ich schnitt ein Stück, hob das Messer in die Höhe und ließ es tropfen. Es sah aus wie Blut. Wie würde es sein, wenn es wirklich Blut wäre?

Wieder schnitt ich ein Fleischstück ab und wiederholte den Vorgang mit dem Messer. Es war atemberaubend schön. War es das, was mir noch fehlte? Meine früheren Gedanken kehrten zurück, doch dieses Mal taten mir die Tiere leid. Die lebenden Tiere hätten keine Qual verdient. So mancher Mensch aber schon.

Ich ließ meine Gedanken allein und ging wieder hinaus zur Grillparty. Sie war im vollen Gange. Meine Augen scannten die Menschen, ob es irgendjemand verdient habe...

Diese Gedanken waren schwierig. Einerseits waren sie für mich normal und anderseits sah ich sie so, wie meine Mutter schauen würde, wenn sie davon wüsste. Es konnte daher nur Einen geben, der es verdiente und das war ich.

Wenige Tage später war ich allein zu Hause. Audrey und die Kinder waren in der Nachbarschaft verteilt. Die Einstandsparty war in dieser Beziehung ein voller Erfolg.

Ich saß in der Küche und blickte auf die vielen Messer, die stilvoll an der Wand befestigt waren. Ihr Anblick brachte mein Blut in Wallungen. Diese Seite an mir war mir komplett neu. Ich zog ein kleines Gemüsemesser aus der Scheide und sah es mir an. An den Zacken würde mein Blut bestimmt kleben bleiben und dann langsam abtropfen, wie damals der Fleischsaft. Meine Gedanken trieben mich in Rage, die Neugier, die Sensationslust ... Es war alles auf einmal.

Ich schnitt mir in die Seite des linken Ringfingers und zuckte zusammen. Das Blut quoll aus der Wunde und vermischte sich mit dem Messer. Ich hielt es in die Luft und es tropfte. Es war als hätte ich ein blutendes Messer, der Anblick war göttlich. Immer wieder ging ich mit dem Messer in die Wunde um Blut daran zu schmieren. Meine ganze Hand war inzwischen rot. Ich nahm nur kurz Notiz davon. Meine Augen hafteten an der Klinge. Sie war majestätisch. Was sie vollbringen kann...

Ein starker Schmerz im Finger brachte mich zurück ins echte Leben. Nicht nur meine Hand war voller Blut, auch meine Hose und der Boden. Es floss unablässig und ich musste die Blutung mit Papiertüchern stoppen.

Hoffentlich hatte ich nicht zu tief geschnitten, hoffentlich hinterlässt es keine bleibenden Schäden. Ich dachte wieder wie ein gewöhnlicher Mensch und begann mir Sorgen zu machen. Wenn ich jetzt das Bewusstsein verliere, aufgrund des Blutverlustes ... Man würde mich erst Stunden später finden. Vielleicht wäre es dann zu spät? Möglicherweise wäre ich dann tot? Panik durchfuhr mich und ich lief durch die Küche, durch den Flur auf die Straße. Die Sonne brannte vom Himmel herab und schmerzte in meinen Augen. Alles tat weh, schreiend fiel ich zu Boden.

Es muss ein grauenhaftes Schauspiel gewesen sein. Vermutlich auch zu übertrieben für einen kleinen Schnitt in den Finger. Ich fühlte mich schrecklich, es war peinlich. Besonders als ich die Augen inmitten einer meuternden Menge wieder öffnete. Viele Menschen hatten sich um mich herum versammelt und ein Mann, der sich als ein Arzt vorstellte, sah sich meine Verletzung an. Er redete etwas von tief und nähen. Ich verlor das Bewusstsein.

Was hatte ich angerichtet? Vor allem ... Wie sollte ich das Audrey erklären? In der Küche lag kein Obst oder Gemüse auf dem Brett, was ich hätte schneiden wollen. Wie hab ich mich verletzt? Ich nutzte die Ruhe im Krankenbett, um mir darüber in Klaren zu werden und mir eine Antwort auszudenken. Was wollte ich schneiden? Das hatte ich wirklich blöd durchdacht.

Audrey und die Kinder standen traurig bei mir als ich die Augen öffnete.

 

 

 

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