Kurzgeschichten aus der Perspektive von verstorbenen Menschen

Dieses Buch beinhaltet die Geschichten von Danjel, Antonia, Tanja S., Frankie, Tobias und Anna Rogue.
Danjel`s Leben fand mit siebzehn Jahren ein jähes Ende. Ohne Vorwarnung stand er vor den Scherben seines Seins und musste lernen damit klarzukommen. Antonia musste tatenlos mit ansehen, wie ihr Leben aus den Fugen geriet. Tanja S. starb in einer peinlichen Situation. Immer abhängig von der Hilfe Anderer möchte sie ihren eigenen Weg finden, doch das gestaltet sich schwieriger, als sie erhofft. Frankie ergriff im Leben oft die Flucht und stieß im Tod an ihre Grenzen. Tobias und seine Frau sehnten sich nach einem zweiten Kind. Als dieser Wunsch endlich in Erfüllung ging, bekam er eine Nachricht, die sein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Anna Rogue erzählt von ihren drei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

 

 

Leseprobe

 

Danjel

 

Mit siebzehn Jahren rechnete ich nicht mit dem Tod. Ich machte mir keine Gedanken über ihn, er war nicht Bestandteil meines Lebens und doch wurde er es zwangsläufig. Er schlich sich nicht ein oder warnte mich wenigstens für einen Bruchteil vor. Er geschah einfach.

Ich lief die Straße entlang, so wie ich es jeden Morgen tat. Um die Zeit zu verlängern und die Arbeit zu verkürzen, lief ich Umwege. Ich liebte es durch den Stadtkern zu laufen und die Stimmungen der anderen Menschen zu beobachten. Viele waren hektisch und übersahen bei ihrem Wettlauf wer als erstes auf Arbeit war, das Wesentliche. Für mich war es das Leben, das Laufen, die frische Luft, die Bäume in den benachbarten Parks. Alte Menschen saßen dort auf Bänken. Manchmal setzte ich mich zu ihnen. Sie erinnerten mich an meine Großeltern, die ich nur aus Erzählungen kannte, weil sie sehr früh, noch vor meiner Geburt, verstarben. Trotzdem kannte ich den Tod nicht, ich verstand sein Ausmaß nicht. Zu meinen Lebzeiten traf es niemanden in meinem familiären und freundschaftlichen Umfeld. Er war für mich nicht verständlich und existierte nur in weiter, weiter sehr weiter Ferne.

Meine Eltern gingen jeden Morgen sehr früh aus dem Haus. Ich verließ es als letzter und kam immer als erster. Jeder Tag verlief in gewöhnlichen Bahnen mit geregeltem Ablauf. So war ich es gewohnt und so sollte es immer bleiben.

Dienstagabend überzeugten mich meine Kumpels mit ihnen ins Kino zu gehen. Es war unser letzter gemeinsamer Abend. Hätte ich das schon vorher gewusst, dann hätte ich ihn viel mehr genossen. Ich hätte ihn anders gelebt und erlebt.

Am Mittwochmorgen ging ich aus dem Haus und bog in eine Seitenstraße ab. Ich wollte den Arbeitsweg verlängern. Um mich herum tobte das Gewusel der Stadt. Männer, Frauen, Kinder, Hunde. Es war ein normaler Tag. Ich hielt vor den Schaufenstern an und beäugte neugierig diverse Dekorationen.

Dann kam der Tod.

Er packte mich am Kragen und riss mich auseinander. Er sagte nicht: „hier bin ich.“ Er winkte nicht wie ein Freund oder grüßte mich freundlich. Er war einfach da, packte mich, zerstörte mich und wirbelte mich durch die Luft.

Nicht nur ich flog, da waren noch mehrere Menschen, beziehungsweise ihre Teile. Da kamen Arme, Beine, Köpfe, Finger, Autoteile, verschiedene Trümmer um mich herum ... Mir wurde übel, richtig schlecht. Was war geschehen? Warum stand ich nicht mehr vor dem Schaufenster? Wieso riss man mich aus der Welt?

Ich prallte auf dem Boden auf und war nicht mehr ich. Danjel war Geschichte.

Ich sah mich um, neben mir schrien Kinder und Mütter. Dieses hysterische Schreien begleitete meinen Tod. Eine Mutter schob einen zerstörten Kinderwagen vor sich her. Er krächzte auf der Achse, sie schob ihn unbehelligt weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Ich kämpfte mit meiner Übelkeit und mit den ganzen Eindrücken. Ein kleiner Junge neben mir verstummte und ging in die Knie. Er verkroch sich in sich selbst. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ich glaubte nicht, dass das möglich sein konnte.

Ich musste schnell feststellen, dass alles möglich war. Früher dachte ich immer, du bist ein Mensch, ich bin ein Mensch, fertig. Ich verstand die zwischenmenschliche Gewalt nicht. Warum töten Menschen Menschen? In meinem Denken wollte ich kindlich bleiben, aber mein Ableben zeigte mir, das mein Denken irrelevant war.

Ich starb, wie noch viele andere, durch eine katastrophale Autobombe. Ich stand direkt neben dem Auto und war dankbar, als ich endlich aufstehen konnte. Überall sah ich Schwerstverletzte. Ich hatte keine Schmerzen und auch die Übelkeit war verschwunden. Das Leid der Menschen beschäftigte mich mit dem nächsten Warum. Weshalb tun wir das unseren Mitmenschen an? Wer hatte etwas davon?

Es ist an Gemeinheit nicht zu überbieten, Menschen aus ihrem Leben zu reißen, ohne jegliche Vorwarnung! Ich habe viel danach gesehen, auch viele sterben. Aber es ist ein riesiger Unterschied, wenn man sich und sei es nur wenige Sekunden, auf den Tod einstellen kann. Wenn jemand eine Pistole vors Gesicht gehalten bekommt, dann weiß derjenige, gleich kann es vorbei sein. Ist man schwer krank, dann durchläuft der Körper viele Prozesse zur Vorbereitung. Meine Mitsterbenden und ich hatten nicht mal einen Atemzug.

Damit kämpfte ich sehr ... diese Ungerechtigkeit, die keinen etwas bringt. Ich musste nicht in andere Länder gehen, um zu sehen, dass Menschenmord nichts bringt. Ich musste erstmal mit meinem Tod klarkommen und ich fragte mich, wie sollte das gehen?

Ich ging vom Schauplatz weg, an dem sich immer mehr Schaulustige tummelten und ging in mein Elternhaus. Wie werden meine Eltern reagieren? Davor hatte ich große Angst. Ich war ihr einziges Kind. Sie verloren ihren einzigen Sohn, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte, wegen dummer Ignoranz. Es gibt keine Rückspultaste und das machte mich wahnsinnig. Ich setzte mich auf den Abtreter unserer Haustür und wartete. In mir spulten sich Filme ab, wie es sein könnte.

Zu meiner großen Überraschung kamen sie nacheinander von der Arbeit ohne irgendeine Regung. Meine Mutter lief an mir vorbei und als mein Vater kam, ging ich mit ihm ins Haus. Sie klopften an meine Türe und weil ich nicht aufmachte, sahen sie rein, keiner da und vermuteten, dass ich wieder mit meinen Freunden unterwegs sei.

„Nein das bin ich nicht!“, schrie ich ungehalten. „Ich bin tot!“

Das war uninteressant.

Der Anrufbeantworter blinkte und meine Mutter hörte die Nachricht ab. Mein Arbeitgeber unterrichtete sie von meinem Fehlen. Daraufhin wurde sie sauer und fluchte über mich vor meinem Vater.

„Was fällt ihm ein! Warum ist er dumm und schwänzt die Arbeit?“ Ich war geschockt, denn es fielen noch mehrere unschöne Worte. So hatte meine Mutter noch nie über mich geredet!

Mein Vater zuckte die Schultern und sprach sie auf die Autobombe an. „Die Welt wird immer gefährlicher.“

Das war ihr Resümee und damit war es beendet ... Vorerst.

Sie machten sich fertig für den Abend und sahen dann in den Spätnachrichten das Ausmaß der Bombe. „Es gäbe unzählige Tote und viele davon sind noch nicht identifiziert.“

„HALLO, ich bin einer davon“, erklärte ich der Tante im Fernseher.

Ich setzte mich auf den Sessel und beobachtete meine Eltern. Sie sorgten sich nicht eine Sekunde. Vielleicht war es so besser?

Meine Eltern turtelten auf der Couch, freuten sich über ihre leere Wohnung und verschwanden kichernd im Schlafzimmer. Sie ließen mir den Fernseher an und dadurch wurde ich mit den furchtbaren Tatortbildern konfrontiert. Ich wollte es mir nicht mehr antun und aufstehen, aber ich konnte es nicht. Ich musste einfach hinsehen, wie schon auf der Straße. Diese Bilder werden immer ein Teil von mir sein. Wie ein Trauma brannten sie sich ein.

Am nächsten Morgen stand meine Mutter zuerst auf und schaltete den Fernseher aus. „Diese Stromkosten“, beklagte sie sich und: „Danjel hätte den ja auch mal ausmachen können.“

„Tja Mutter, das hätte ich gerne gemacht“, entgegnete ich ihr und konnte endlich aufstehen. Sie öffnete den Kühlschrank und mein erster Blick fiel auf meine geliebte kalte Cola, die ich normalerweise sofort getrunken hätte. Mit offenem Mund schmeckte ich sie, die Erinnerung war zum Glück noch da. Die vorhandene Cola machte meine Mutter stutzig. Sie ging in mein Schlafzimmer und wühlte im leeren Bett, ob ich da nicht doch noch irgendwo lag. Das war zuviel für sie, schreiend weckte sie meinen Vater.

Ich war noch nie unangemeldet nächtens unterwegs, sie wusste, dass da etwas nicht stimmte und jeder Beruhigungsversuch meines Vaters scheiterte. In ihr schrillten alle Muttergefühle, da konnte etwas nicht stimmen!

Wir alle erschraken, als wie auf Knopfdruck der Fernseher anging und wieder von der Autobombe berichtete. Für meine Mutter war das ein Zeichen, sie zog sich an, versuchte alle meine Freunde zu erreichen, die mich seit dem Kinoabend nicht mehr sahen, und ging zur Polizei.

Sie nahmen ihre DNA und danach ließ sie sich vom Arzt krankschreiben. Sie war völlig fertig, sie ahnte, dass die Bombe meinen Arbeitsweg streifte. Sie war zu nichts mehr in der Lage und mein Vater musste sich beurlauben lassen. Ich wartete mit ihnen auf das kommende Unheil und das Urteil war zerschmetternd. Man fand nicht mehr viele Überreste von mir. Da war ein kleiner Teil von einer Fingerspitze...

 

Diese Bombe hatte eine dermaßen zerstörerische Kraft, wie wohl keine andere zuvor und meine geringe Distanz zu ihr, ermöglichte ihr, mich fast vollends menschlich zu vernichten.

Meine Mutter weinte ... Meine Mutter schrie. Meinem Vater war der Schock anzusehen. Er hatte bis zuletzt auf ein Wunder gehofft. Eine klitzekleine Chance. Die gab es nicht. Sie waren am Boden zerstört und ich mit ihnen. Sie waren nicht fähig meine Beerdigung zu planen, wurden aber von den Behörden dazu gezwungen.

Mit dem Kopf schüttelnd wollte ich das alles nicht wahrhaben. Es konnte nicht die Wirklichkeit sein! Ich stand doch noch vor kurzem vor dem Fenster und sah mir Handwerkskunst an. Vielleicht hätte ich diese Karriere auch einmal eingeschlagen, möglicherweise schlummerte in mir ein stilles Talent. Ich würde es nicht mehr erfahren. Ich konnte an diesem Teil der Welt nicht mehr teilhaben. Das schmerzte sehr. Am liebsten wäre ich gegangen, weit, weit viel weiter weg, aber ich wusste nicht wohin und ich hatte Angst, dass ich den Weg nicht mehr zurückfinde. Meine Eltern waren alles, was ich hatte.

 

An einem Freitag stand meine Beerdigung an. Sie war unwirklich. Ich ging zusammen mit meinen Eltern zum Friedhof. Dort waren viele fremde Menschen, die Beileidsbekundungen aussprachen. Der Bürgermeister der Stadt hielt eine Rede. Neben ihm standen hochrangige Politiker.

„Wir dürfen diese Gewalt nicht tolerieren!“

Dafür bekam er Beifall und meine Stimmung kippte. Er hielt dort seine große Rede, er war am Leben! Mir brachte es nichts mehr, ich konnte nicht mehr zurück, mein Leben war vorbei!

Meine Mutter weinte in ihr Taschentuch. Auch ihr brachte diese Rede nichts. Sie bekam mich deswegen nicht zurück und war untröstlich. Wir liefen in die Kapelle und setzten uns vor meinen Sarg. Mein Hals schnürte sich zu. Einige menschliche Empfindungen waren noch vorhanden. Beim umsehen erkannte ich meine Kumpels. Sie waren in schwarz gekleidet und ihre Miene war finster. So sah ich sie noch nie. Kein lachen, kein herumalbern, keine Späße. Sie waren todernst.

Ein alter Mann, der mich nicht kannte, hielt eine Rede für mich. Er sprach von meinem kurzen Leben und das ich auf der Suche nach mir selbst war. Das konnte ich mir nicht anhören. So ein Blödsinn. Ich stand auf und hielt meine eigene Rede.

 

 

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