Eine Kurzgeschichte aus der Perspektive einer Verstorbenen.

Jasmin verunglückt beim überqueren einer Straße und wird aus ihrem gewohnten Leben gerissen.
Ohne ihrem Mann und ihren Kindern betritt sie die Seelenebenen.
Sie versucht den Tod zu akzeptieren und trifft dabei auf viel Ungewisses … und Mike.

 

 

Leseprobe

Erste Seelenebene

„Müssen gerade jetzt so viele Autos fahren, wenn ich über die Straße muss?“ Leise fluche ich vor mich hin, während meine Augen wild von rechts nach links schwenken. Die Ampel ist wenige Meter von mir entfernt, aber den Weg möchte ich mir sparen. Gestresst fällt mein Blick auf meine schwarze Armbanduhr und bestätigt mir, dass ich es eilig habe, weil meine Kinder garantiert schon auf mich warten.

Sie besuchen die zweite und fünfte Klasse. Aufgrund der vielen Straßen, die wir überqueren müssen, hole ich sie lieber ab, damit sie sicher nach Hause kommen. Auch mein kleiner Lars wird im Kindergarten ungeduldig lauern.

Ein Hupkonzert begleitet mein aus Ungeduld schnelles Herüberlaufen und lässt mich japsend vor der Schule stehen. Von meinen Kindern ist keine Spur und ich versuche durch gleichmäßiges Atmen meinen rasend pulsierenden Herzschlag in den Normalbereich zu regulieren.

Miteinander plaudernd verlassen mein Sohn Sören und meine Tochter Clara schlendernd das Schulgebäude und schenken mir ihr freudigstes Lächeln. Sofort in ihre Mitte genommen machen wir uns auf den Weg zum Kindergarten und überqueren die Straße per Ampel vorschriftsmäßig.

„Süße, dein Rucksack ist auf“, stelle ich fest, als wir den Bordstein erreichen. „Du hast auch schon etwas verloren.“

Der kleine, gelbe Lieblingskuschelelefant meiner Tochter liegt hilflos auf der Straße und wartet auf Rettung. Die will ich ihm gewähren und prüfe mit einem kurzen Blick die Fußgängerampel, die noch willig in grün leuchtet. Sorglos greife ich nach ihm.

 

Quietschende Bremsen, das Schreien meiner Kinder, und ein lauter – mit Schmerzen begleiteter Knall schleudert mich gefühlt meterweit durch die Luft. Der Aufprall auf dem Asphalt ist betonhart.

Meine Sicht wird schwarz, dann verschwommen hell und wieder schwarz. Um mich herum sind viele Stimmen und ich kristallisiere meine weinenden Kinder heraus. Das brennt sich tief in mein Herz und lässt meinen ganzen Körper noch mehr schmerzen.

Erneut wird es hell hinter meinen geschlossenen Augenlidern und mein Gehirn suggeriert die Bilder, die mein Leben ausmachten. Meine Geburt und die wundervolle Kindheit, dank meiner Eltern. Die Hochzeit mit dem besten Mann, den es auf der Welt gibt und das Geschenk unserer Liebe – unsere drei Kinder.

Ich sehe mir jeden Augenblick aufmerksam an und schwelge im Glück, das sie bei mir verursachen. Jede Erinnerung – Jeder Gedanke. Ich möchte sie festhalten für die Ewigkeit und stehe plötzlich neben mir. Mein verletzter Körper liegt in einem Krankenbett, um das sich meine Liebsten gestellt haben und mich jammernd streicheln.

„Bin ich tot?“, frage ich sie fassungslos, doch sie geben keine Antwort. Meine Überreste sehen so aus und es sind keine Maschinen angeschlossen, die mir das Gegenteil beweisen. „Ich kann nicht“, schluchze ich und gebe mich ihren Emotionen hin.

Weinend stehen wir zusammen – ein letztes Mal – denn ich möchte nicht bei ihnen bleiben. „Ich kann es nicht“, klage ich geschockt. „Ich kann eure Trauer nicht ertragen“, versuche ich zu erklären. Sie hören mich nicht. „Ich gehe jetzt“, sage ich entschlossen und drehe mich um. Das Krankenzimmer verschwindet und eine neue Welt baut sich vor mir auf.


Zweite Seelenebene

„Hallo“, sagt ein großer, fremder Mann freundlich. Er steht vor einem riesigen, schimmernden Tor. Links und Rechts baut sich eine undurchdringliche Schwärze auf und alles beginnt sich vor meinen Augen und in mir zu drehen. „Möchtest du auf diese Seelenebene?“, höre ich ihn leise fragen. Die dunkle Umgebung wirbelt um mich herum. Sanft versuche ich meinen Kopf nickend zu bewegen und seine riesige Hand legt sich vermutlich auf meinen Rücken. Er schiebt mich durch das helle Portal, das sich von der Dunkelheit zusehends abhebt.

 

Dabei verändert sich erneut die Gegend und auch in mir wird es still. Mit klarem Blick schaue ich in das belebte Gebiet, das der Erde ähnelt. Der Himmel ist blau und die Sonne strahlt über die viereckigen, grünen Häuser, die das Gesamtbild der Stadt ausmachen. Einfache Wege verbinden sie und die glücklich wirkenden Menschen, lachen lauthals miteinander und verschwinden in den Gebäuden.

„Sei Willkommen auf der zweiten Ebene“, begrüßt mich eine Frau und geleitet mich durch eine rote Tür in solch ein seltsames Haus.

„Zweite Ebene?“, frage ich benebelt von den vielen Eindrücken, die auf mich einprasseln. „Was für Ebenen? Wo war die erste?“

„Die hast du schon verlassen und es gibt kein Zurück. Jeder kann in den Ebenen lediglich aufsteigen und jetzt bist du hier. Möchtest du sie dir anschauen oder sofort auf die nächste gehen?“

„Ich … Ich weiß nicht“, stottere ich überfordert. „Ich muss erstmal nachdenken.“

Die Frau führt mich durch viele kleine Räume und drückt mich auf einem Stuhl runter. „Dann ruh dich hier aus und wenn es dir besser geht, sagst du mir Bescheid.“ Lächelnd streichelt sie sich über ihren gewölbten Bauch, der einer Schwangeren ähnelt. Sie setzt sich auf einen Stuhl an der Wand gegenüber und blättert aufgeregt in einer Zeitung.

Ich nehme mir ihre Worte zu herzen, bleibe still und versuche meine Gedanken zu ordnen. Der Tod ist also nicht das Ende, ist nur einer von vielen. Die Sehnsucht nach meinen Kindern und meinen Mann macht einen ungeheuerlichen Teil davon aus und lässt sich mit keiner passenden Lösung verknüpfen.

Die Stunden vergehen und um uns herum herrscht geräuscharmes Treiben. Ständig kommen Menschen durch die Tür und verlassen sie durch eine andere.

Die Frau gegenüber hat ihre Sitzposition nicht verändert und durchforstet fortlaufend neugierig die Zeitschriften.

„Okay, ich wäre jetzt soweit“, spreche ich planlos und nehme einfach das, was auf mich zukommt.

„Du möchtest auf dieser Ebene verweilen?“

„Ja.“

„Gut“, lächelt sie. Dann folge mir.“ Mit schnellem Schritt durchquert sie farbenfrohe Räume, die alle gleich strukturiert sind. Jeder bietet Sitzmöglichkeiten und viele davon sind besetzt.

Vor einer gelben Tür stoppt die Frau und klopft an. Die Tür öffnet sich selbstständig und ich bekomme den Vortritt mich erneut auf einen Stuhl zu setzen. Der pastellfarbige Raum ist menschenleer und ich wundere mich, warum sie überhaupt anklopfte. Mit einem breiten, schwarzen Ordner, der sehr schwer aussieht, kommt sie zu mir und legt ihn auf meinen Schoß.

Begeisternd strahlend setzt sie sich neben mich und streichelt ihren dicken Bauch. „Sind sie schwanger?“, frage ich perplex.

„So ähnlich“, grinst sie noch breiter und verweist meinen Blick auf den Aktenordner, der mit Blei gefüllt sein muss, so wuchtig, wie er ist.

„Was soll ich damit?“

„Öffne ihn.“

Das vermutete Blei stellt sich als harmloses Papier heraus. Allerdings ist der Ordner dermaßen damit vollgestopft, dass sein Gewicht kein Wunder ist. Auf jedem Blatt sind Bilder von Männern abgedruckt und umso länger ich durch die Seiten blättere, umso mehr bekomme ich den Eindruck, dass ich mich auf einer Singlebörse befinde. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Unzählige Männer mit diversen Augenfarben, auch Farbtöne, die bei gewöhnlichen Menschen unmöglich sind. Die Haare variieren, sowie die Hautfarben.

„Was soll ich damit?“, frage ich erneut und noch verwirrter, als ich es vor dem Aufklappen war.

„Such dir einen aus“, antwortet sie und legt einen Blick auf, als ob wir uns im Schlaraffenland befinden.

„Aber ich möchte keinen von ihnen“, entgegne ich und blättere automatisch weiter durch die Fotos.

„Es geht doch nur um die Fortpflanzung. Such dir einen aus, der dir gefällt und fertig“, schmunzelt sie und schaut verliebt zu ihrem Bauch. „Der Mann ist nur Nebensache“, murmelt sie verzückt.

Ihre Worte entschlüsseln zu wollen, lege ich Seite für Seite um und wunderschöne, vertraute, grüne Augen hindern mich am weiterblättern. Hätte ich noch einen Herzschlag, würde er in dem Moment in die Höhe schnellen. Wie schon als Jugendliche, schaffe ich es nicht, meinen Blick von seinen Augen abzuwenden. „Er ist hier?“ Ungläubig verlassen diese Worte meinen Mund.

„Ja, möchtest du ihn wählen?“

„Wofür?“, entgegne ich wiederholt, um es zu verstehen.

„Auf dieser Ebene geht es um die Seelenvermehrung. Du musst eine männliche Seele wählen, mit der du dies vollführen möchtest. Soll es Mike sein?“

„Das ist doch verrückt?!“, stammle ich mit festen Blick auf seine Augen.

„Dann möchtest du auf eine andere Ebene?“

Meine Gedanken fahren Achterbahn. Waren sie eben noch bei meiner Familie, die ich zurücklassen musste, sind sie nun erfüllt von meiner Jugendliebe. Gewiss war diese sehr einseitig, weil er schon tot war und ich nur trauernd vor seinem Poster stand, aber er hat mich nie losgelassen.

Zerstreut schüttle ich den Kopf, wobei ich mir auch nicht vorstellen kann, nur als Brutstelle herzuhalten. Mein innerer Kampf beginnt und seine fesselnden Augen tragen ebenso dazu bei, wie die Frau, die mir erklärt, „dass ich mich jederzeit für die nächste Ebene entscheiden kann“, sodass ich mich für dieses ungewisse Abenteuer entscheide.

 

„Ihr seht euch alle drei Nächte. Was dann geschieht, erklärt er dir“, sagt sie und befreit mich von seinem Anblick, indem sie den Ordner schließt und mit ihm den Raum verlässt. „Hier ist der Schlüssel für dein Quartier, ich wünsche dir viel Spaß.“ Genüsslich lachend zeigt sie auf eine pinkfarbene Tür.

Ich umschließe den silberfarbenen Schlüssel mit meiner Hand, öffne die Tür und gehe in mein neues Leben.

***

Der Himmel ist wolkenlos und frohlockt mit unterschiedlichen Blautönen. „Und was nun?“, frage ich leise und sehe auf die vielen Menschen, die glücklich und in großen Massen umherwandern. Ein Gebäude gleicht dem anderen und dieser stechende Grün-Ton ersetzt die fehlende Pflanzenwelt.

„Kann ich dir helfen?“, werde ich von einem Mann angerempelt.

„Ja, ich bin neu hier und habe keine Ahnung, wie es weitergeht.“

„Oh eine verlorene Seele“, freut er sich, reibt sich die Hände und legt dann seinen Arm um mich. „Ich zeige dir, was du jetzt machen musst. Wo ist dein Schlüssel?“

Mit ungetrübten Misstrauen beäuge ich ihn und halte meine Hände fest geschlossen.

„Auf dem Schlüssel steht deine Haus- und Zimmernummer. Hast du ihn etwa verloren?“, drängelt er sich sprichwörtlich auf und streicht mit seiner freien Hand durch seine bläulichen Haare.

„Nein, ich komme schon klar“, versuche ich mich herauszureden um diesen lästigen Mann loszuwerden. Seine stechend, gelben Augen weiten sich und konkurrieren mit meinen grauen. „Mir fällt gerade alles wieder ein“, lüge ich. „Ich bin auf den Kopf gefallen und hatte kurzen Gedächtnisausfall. Danke für deine Hilfe“, sage ich bestimmt und drehe mich aus seinem Griff.

 

 

 

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